Zum zweiten Mal in wenigen Tagen ist Till Lindemann in den Schlagzeilen. Ging es Mitte März um die Texte anderer, geht es jetzt um seine eigenen.
CN: Vergewaltigung
Achtung: Dies ist ein nachrichtlicher und damit vor allem um Objektivität bemühter Bericht. Zu meiner persönlichen Position zu unter anderem Vergewaltigung bitte ich das Statement zu Geisteshaltung und Werten zu beachten.
Erst am 27. März 2020 trendete der Hashtag #TillLindemann in Deutschland, nachdem der Rammstein-Sänger am Vorabend vom Arzt der Band in ein Krankenhaus eingeliefert und dort auf die Intensivstation verbracht worden war.
Offenbar sorgte die Falschmeldung, Till Lindemann habe sich mit dem Corona Virus infiziert, für Aufregung. Noch am 27.03. dementierte die Band. Der Corona-Test sei negativ ausgefallen. Der Sänger habe die Intensivstation schon nach einer Nacht wieder verlassen. Über den Grund seines Krankenhausaufenthalts wurde indes nichts bekannt.
Lindemanns falsche Aussagen
War es in diesem Fall eine hochgekochte Falschmeldung, trendet #Lindemann nun aus einem anderen Grund, denn Till Lindemanns Anfang März bei Kiepenheuer und Witsch (KiWi) erschienener Gedichtsband „100 Gedichte“ hat im Internet einen Shitstorm ausgelöst.
Der Autor wird wegen eines der Gedichte für die Verherrlichung von Vergewaltigung kritisiert. In dem betreffenden Text „Wenn du schläfst“ heißt es:*
Ich schlafe gerne mit dir, wenn du schläfst.
Till Lindemann („Wenn du schläfst“)
[…]
Etwas Rohypnol im Wein (etwas Rohypnol ins Glas).
Kannst dich gar nicht mehr bewegen. Und du schläfst, es ist ein Segen.
* Textauszug aus „Wenn du schläfst“ zitiert nach Ze.tt. Den vollständigen Text des Gedichtes findet man leicht durch Suche im Netz.
Das lyrische Ich (zu diesem Begriff siehe unten) phantasiert hier also davon, eine andere Person durch Rohypnol (landläufig bekannt als K. O.-Tropfen) bewegungsunfähig und gefügig zu machen, um dann mit dieser Geschlechtsverkehr zu haben.
Das dargestellte Szenario entspricht dem Tathergang vieler realer Vergewaltigungen. Immer wieder beschreiben die Opfer von sexueller Gewalt die Erfahrung, plötzlich jede Kontrolle über den eigenen Körper verloren zu haben und sich nicht mehr äußern oder wehren zu können.
Verherrlicht Till Lindemann?
Ein solches Erlebnis ist für die betroffene Person mit Sicherheit traumatisch, wie es auch traumatisierend ist, Opfer sexueller Gewalt zu werden. Sexuelle Gewalt liegt in jener im Gedicht beschriebenen Szene vor, da die betroffene Person als bewegungsunfähig geschildert wird. Eine Zustimmung zu sexuellen Handlungen ist nicht erkennbar und durch die versteckte Verabreichung der K. O.-Tropfen nicht anzunehmen.
Es ist nicht nötig zu sagen, dass jeder Mensch für jede einzelne sexuelle Handlung das Recht auf Zustimmung oder Ablehnung hat. Ein Mal einer sexuellen Handlung zugestimmt zu haben, bedeutet nicht einen Freibrief für die Zukunft.
Nicht in Widerspruch dazu steht die Tatsache, dass es Sexualpraktiken im BDSM (Abkürzung für „Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism“ – „Fesselung & Disziplinierung, Dominanz & Unterwerfung, Sadismus & Masochismus“) gibt, in welchen Vergewaltigungsszenarien im Rollenspiel nachgestellt werden. Das Gedicht gibt darauf jedoch keinen Hinweis.
Worauf der Ausschnitt auch keinen Rückschluss zulässt, ist, dass es sich dabei um etwas anderes als Verherrlichung von Vergewaltigungen handelt. Das lyrische Ich zeigt jedenfalls weder Schuldgefühl noch Reue – eine andere Stimme, welche sich von den dargestellten Handlungen distanziert, ist nicht erkennbar. Negative Auswirkungen der dargestellten Vergewaltigung werden nicht thematisiert.
Dementsprechend ist es zulässig, den Text, der ausschließlich das unterstellte „Positive“ an der Vergewaltigung zeigt, als Verherrlichung dieser Straftat zu verstehen. Vor allem im Kontext anderer Texte von Till Lindemann.
Ein Ich und Till Lindemann
Stellen wir mal verschiedene Fragen zum Szenario:
- Darf man Vergewaltigungsszenarien in Rollenspielen nachstellen? Ja, alles, dem alle Beteiligten zustimmen, ist erlaubt. Außerdem sollte es natürlich sicher und vernünftig sein (im Englischen: „Safe, sane & consensual“).
- Sind solche Vergewaltigungsszenarien dasselbe wie Vergewaltigungen? Nein, denn sie werden ja in beiderseitigem Einverständnis gespielt.
- Darf man Vergewaltigungsphantasien haben? Na ja, die Gedanken sind frei, jedoch sind solche Phantasien sehr problematisch, weil dabei nicht der Geschlechtsakt, sondern der Gewaltakt im Vordergrund steht.
- Hat Till Lindemann also Vergewaltigungsphantasien? …
Das wissen wir nicht. Wir wissen, dass Till Lindemann einen Text geschrieben hat, der belegt, dass er in der Lage ist, sich vorzustellen, dass jemand Vergewaltigungsphantasien hat. Mehr Rückschlüsse können wir über ihn nicht ziehen.
Auch dass in seinem Gedicht ein „Ich“ auftritt, erlaubt hierzu keine Rückschlüsse. Die Literaturwissenschaft bezeichnet diesen Kunstgriff als das lyrische Ich: Der Autor Till Lindemann lässt hier lediglich eine fiktive Person für ihr fiktives Ich sprechen.
Auf der Textoberfläche ist der Unterschied zwischen diesem Gedicht und einer echten Vergewaltigungsphantasie also nur die ästhetische Markierung, die Behauptung also, dass das eben Kunst sei – der ja alles erlaubt sei. Im Folgenden wird diese Aussage im weiteren Kontext betrachtet.
Die Rape-Culture, der Diskurs und Till Lindemann
Die Darstellung von Vergewaltigung ist in Texten von Till Lindemann nichts Neues. Schon das erste Rammstein-Album „Herzeleid“ (1995) vertonte mit „Weißes Fleisch“ ein entsprechendes Gedicht:**
Du auf dem Schulhof, ich zum Töten bereit
Till Lindemann („Weißes Fleisch“)
[…]
Ich tu‘ dir weh und du jammerst laut
Jetzt hast du Angst und ich bin soweit
[…]
Ich werd‘ immer geiler von deinem Gekreisch
Der Angstschweiß da auf deiner weißen Stirn
Noch häufiger also wählt Till Lindemann das lyrische Ich zur Behandlung des Themas Vergewaltigung. Er macht das auch bei anderen sensationsgeladenen, provokationsgeeigneten Themen. Noch ein Beispiel zum Thema Vergewaltigung aus „Herzeleid“:**
Ich warte bis es dunkel ist
Till Lindemann („Du riechst so gut“)
Dann fasse ich an die nasse Haut
[…]
Hör auf zu schreien und wehr dich nicht
Der entscheidende Unterschied zwischen diesen beiden Texten und „Wenn du schläfst“ ist, dass hier wenigstens angedeutet wird, dass das Gegenüber des lyrischen Ichs gegen seinen Willen Opfer der dargestellten Handlungen wird. Eine darüber hinausgehende Thematisierung des Problems bleibt aus. Der gesamte Tonfall und die Selbstpräsentation von Rammstein und Till Lindemann bleibt zustimmen.
Das neu veröffentlichte Gedicht findet also bezogen auf seinen Autor nicht im luftleeren Raum statt. Und es findet auch darüber hinaus nicht in einem luftleeren Raum statt: Es ist Teil eines gesellschaftlichen Diskurses zum Thema sexualisierter Gewalt, das großflächig immer noch durch eine Relativierung der Gewalt, eine Relativierung des Leides des Opfers, ja durch Schuldzuweisungen an das Opfer (sog. Victim Blaming) gekennzeichnet ist.
Nur weil unsere Gesellschaft den Schritt gemacht hat, Vergewaltigung prinzipiell unter Strafe zu stellen und keine Schutzräume für Vergewaltiger (namentlich die eigene Ehe für die innerhalb derselben begangene Taten) mehr zu dulden, sind wir also nicht plötzlich zu einer Gesellschaft ohne Vergewaltigungskultur (sog. Rape Culture) geworden.
Wir haben in unserer Gesellschaft außerdem immer noch eine Rape Culture, weil immer noch mehr über die vorgeblichen Opfer vorgeblich erfundener Vergewaltigungsvorwürfe diskutieren als über die tatsächlichen Opfer tatsächlicher Vergewaltigungen.
Wir haben in unserer Gesellschaft außerdem immer noch eine Rape Culture, weil wir immer noch massenweise Medien haben, in denen sexualisiserte Gewalt positiv dargestellt wird – wie in Till Lindemanns Gedicht –, ohne zu thematisieren, dass diese Darstellung verfälschend und entsprechend problematisch ist.
Till Lindemann im Rausch(en) der Provokation
Für die Kritiker*innen des Till Lindemann-Gedichtes ist jetzt eine guter Zeitpunkt – und „Wenn du schläfst“ ein guter Anlass –, zu thematisieren, was innerhalb der Kunst geschieht und welchen Anteil Kunst bei der fortdauernden Relativierung von sexualisierter Gewalt in unserer Gesellschaft hat. Dementsprechend äußert sich beispielsweise Kathrin Weßling:
Männer, die Till Lindemann jetzt verteidigen und das als Kunst betiteln, machen sich mitschuldig! Mitschuldig an einer Gesellschaft, die Gewalt gegen Frauen relativiert, die misogyne Fantasien als ‚Kunst‘ bezeichnen.
Kathrin Weßling auf Twitter
Es ist genau dies natürlich, was Helge Malchow, Lektor bei Kiepenheuer und Witsch in seiner Stellungnahme macht, wenn er glaubt, die Diskussion sei mit Verweis auf das lyrische Ich beendet:
Die moralische Empörung über den Text dieses Gedichts basiert auf einer Verwechslung des fiktionalen Sprechers, dem sogenannten „lyrischen Ich“[,] mit dem Autor Till Lindemann.
Helge Malchow auf Twitter
Es geht in diesem Diskurs über Rape Culture und über Vergewaltigungen verherrlichende Texte nicht darum, Kunst zu verbieten, sondern darum ihnen wie der Rape Culture selbst das Deckmäntelchen der Normalität zu nehmen – und in der Folge dafür zu sorgen, dass es nicht mehr opportun ist, Vergewaltigungen zu verherrlichen, weil verstanden worden ist, was das bedeutet.
Rammstein und ihr Sänger Till Lindemann sind durch Provokation groß geworden, weil sie durch Provokation Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnten – positive wie negative. Für August und September hat die Band eine Nordamerika-Tour angekündigt. Die bereits laufende Werbung verspricht eine spektakuläre, martialische Feuershow.
Es ist anzunehmen, dass – wenn sich der Rauch der Flammenwerfer verzogen hat – längst in Vergessenheit geraten ist, dass in den Texten der Band und Till Lindemanns eben auch Vergewaltigung verherrlicht wird.
Achtung: Dies ist ein nachrichtlicher und damit vor allem um Objektivität bemühter Bericht. Zu meiner persönlichen Position zu unter anderem Vergewaltigung bitte ich das Statement zu Geisteshaltung und Werten zu beachten.
* Textauszug aus „Wenn du schläfst“ zitiert nach Ze.tt.
** Textauszüge aus „Weißes Fleisch“ und „Du riechst so gut“ zitiert nach Rammstein: „Herzeleid“.
Verwendetes Foto: © 2020 Kiepenheuer und Witsch.